Der Codex Destailleur D
Lieber Herr Wrede, sehr geehrter Damen und Herren,
zuerst möchte ich den Organisatoren herzlich für die Gelegenheit danken, zu diesem Kolloquium beitragen und mich so bei Herrn Wrede für eine der wichtigsten Anregungen bedanken zu können, die ich in der Beschäftigung mit dem vorzustellenden Codex erfahren habe – auch wenn natürlich alle möglicherweise irrtümlichen Hypothesen, die ich im Folgenden mit einigen Argumenten und Indizien untermauern möchte, ganz zu meinen Lasten gehen.
Der seit einem 1903 von Hermann Egger geäußerten Vorschlag benannte Codex kam 1879 über eine Umweg durch den Ankauf der ersten Sammlung des französischen Architeckten Hippolyte Destailleur nach Berlin. Destailleur setzte danach seine immens erfolgreiche Sammlertätigkeit fort, so daß er später eine zweite Gruppe nach Sankt Petersburg verkaufen konnte und nach seinem Tod mehrere Auktionen notwendig waren, um den Restbestand in alle Welt zu verstreuen. Daher gibt es mehrere Codices, die aufgrund dieser Provenienz den Beinamen 'Destailleur 'erhalten haben, und die Benennung mit Buchstaben zu ihrer Unterscheidung ist bis heute nicht eindeutig. Von Egger stammt auch der Vorschlag, den unbekannten Hauptzeichner des Codex „Anonymus Destailleur“ zu nennen, sowie einen weiteren Zeichner von Blättern in der Wiener Albertina als „Kopisten des Anonymus Destailleur“ zu bezeichnen. Inzwischen ist jedoch klar, daß diese Bezeichnungen ein Abhängigkeitsverhältnis suggerieren, das so nicht bestanden haben kann: Vielmehr haben beide Zeichner parallel gearbeitet, und ihre Blätter ergänzen sich teilweise wie die Stücke eines Puzzles, was Maximilian Schich besonders eindrucksvoll an den Zeichnungen zu den Diocletians-Thermen zeigen konnte.
Der hier interessierende Codex entstand um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Rom und enthält Aufnahmen antiker sowie bedeutender zeitgenössischer Bauten. Wo er zwischen ca. 1550 und 1879 verblieben ist und ob er vielleicht sogar rezipiert wurde, ist nicht bekannt. Es gibt aber Indizien dafür, daß seine genauen Darstellungen antiken Bauschmucks einen Einfluß auf französische bzw. Pariser Steinmetze nach 1550 gehabt haben könnten. Greifbar wird der Codex vor dem Verkauf durch Destailleur erst wieder im 19. Jahrhundert, als Paul Letarouilly für sein posthum veröffentlichtes monumentales Stichwerk über den Vatikan offensichtlich auf einige der Darstellungen zurück greift. Wann und wo genau dies geschah, ist leider nicht bekannt.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Codex beginnt zwar schon kurz nach seinem Ankauf für die Berliner Sammlung, hält sich aber insgesamt in sehr bescheidenen Grenzen: Neben Christian Hülsen, der die Blätter zu den Caracalla-Thermen in seinen Kommentaren zu den Antikenstudien Sergej Iwanoffs ausführlich berücksichtigte, finden sich i.d.R. nur kurze Erwähnungen einzelner Blätter. Lediglich Helke Kammerer-Grothaus hat sich Anfang der 1970er Jahre ausführlicher mit Zeichnungen u zwei Bauten an der Via Appia befaßt. Christof Thoenes unterzog 1994 erstmals die St.-Peter-Zeichnungen einer eingehenden Analyse – ihm verdanke ich auch die Anregung zur Beschäftigung mit der Thematik.
Die St.-Peter-Zeichnungen, die die größte Gruppe von einem einzelnen Baukomplex gewidmeten Blättern im Codex Destailleur D ausmachen, sind Gegenstand meiner Dissertation und erlauben – ohne Sie hier mit vertrackten Indizienbeweisen aufgrund der Bau- und Planungsgeschichte langweilen zu wollen –, die Entstehungszeit des Codex auf einen Zeitraum von ca. 1538 bis ca. 1547 einzugrenzen, was durch die Wasserzeichen gestützt wird, und einen französischen Handwerker namens Guglielmo/Guillaume mit dem Hauptzeichner zu identifizieren, der von 1543 bis 1547 in der Fabbrica di San Pietro gemeinsam mit einer kleinen Gruppe weiterer Franzosen regelmäßig tätig war. (Diese Gruppe arbeitete auffälligerweise jede Woche einen Tag weniger als ihre italienischen Kollegen.)
Neben den erwähnten Blättern der Wiener Albertina gibt es möglicherweise noch weitere in Stockholm, London, Paris, New York und Vicenza, die sich dem Entstehungsumkreis des CDD zuordnen lassen. Die gesamte Gruppe, deren intensive Erschließung noch aussteht aber in Vorbereitung ist, umfaßt damit mindestens 200, eher aber wohl über 300 z.T. sehr großformatige Blätter, die weit über 1.000 einzelne Zeichnungen enthalten.
Das Besondere an fast allen Antikenstudien des Codex Destailleur D ist ihr immenser Reichtum an Details sowie die erkennbare Absicht, die vermessenen Bauten in der größtmöglichen Vollständigkeit und ohne Rückgriff auf ältere Zeichnungen oder vorgefaßte Meinungen zu erfassen: Hierin kommt m.W. keine andere Gruppe von Architekturzeichnungen aus der Renaissance denjenigen des CDD und seines Umkreises gleich. Einige Beispiele mögen dies illustrieren:
- Grundriß des Colosseums mit Mittelachse und gemessenen Radien
- Aufriß des Colosseums: alle Details der Außenordnungen
- Schnitt des Colosseums mit ergänzter Wasserleitung
Keines der Colosseums-Blätter hat unter den vielen Aufnahmen des 16. Jahrhunderts eine Parallele.
Offensichtlich beruhen die allermeisten Darstellungen auf neu erstellten Aufnahmen vor Ort, wie die der Maxentius-Basilika,
die die einzige erhaltene Säule noch vor Ort zeigen; Hinweis auf Details an der Basis
und sich solchen „Nebensächlichkeiten“ wie den Treppen auf den Strebepfeilern widmen.
Was bei aller Systematik jedoch auffällt, ist das Fehlen von Darstellungen des skulpturalen Bauschmucks: Während neben den üblichen Gesimsen und Kapitellen auch Wandverkleidungen dokumentiert werden, findet sich bis auf dieses skizzierte Relief aus den Caracalla-Thermen praktisch kein Hinweis auf Baureliefs im gesamten Zeichnungsbestand! Und auch an den Bauinschriften interessieren die Zeichner nur die Formen und Maße der Buchstaben, nicht jedoch der Wortlaut: [Bsp. Porta Maggiore]
Die Systematik dieser Aufnahmen läßt sich in folgenden Punkten zusammenfassen:
Gruppierung der Zeichnungen und Blätter nach Baukomplex
angestrebte Vollständigkeit der Dokumentation, die die Bezeichnung Bauaufnahme rechtfertigt
erkennbar angestrebte Vollständigkeit der (Groß-) Bauten Roms [Pantheon!]
selbständige Vermessung der Bauten ohne Rückgriff auf Vorliegendes oder „Vorurteile“
Verwendung eines klaren Systems von Querverweisen zur Strukturierung der Zeichnungsmenge, nicht nur zur Herstellung der Beziehungen zwischen Haupt- und Nebenzeichnungen
Rekonstruktionen offenbar nur soweit sie durch Befunde abgesichert sind
vermutlich Durchführung eigener Grabungen (?)
Diese Systematik setzt nicht nur eine sehr genaue Planung und sehr viel Zeit für die Ausführung voraus, sondern vor allem einen ausgefeilten methodischen Ansatz, den man einem französischen Handwerker um 1540 eigentlich nicht zutrauen möchte. Im Unterschied zu den bis dato üblichen (erhaltenen) Aufnahmen antiker Bauten könnte man geneigt sein, den Zeichnern der vorliegenden Blätter einen archäologischen Anspruch im modernen wissenschaftlichen Sinne zu unterstellen. Vorbilder für ihr Vorgehen gibt es eigentlich nicht: Die Darstellungstechniken und vor allem die Zeichnungsmethodik, die an der Fabbrica von Sankt Peter in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts von Architekten wie Bramante, Raffael, Antonio da Sangallo d.J. sowie vor allem Baldassarre Peruzzi entwickelt wurde, stellen zwar eine unentbehrliche Voraussetzung dar – aber besonders der in den Zeichnungen des CDD und seines Umkreises grundlegende Aspekt der möglichst vollständigen Dokumentation eines Bauwerks selbst in den scheinbar unbedeutendsten Details ist ein Novum: Mit Blick auf die im Folgenden vorzustellende Hypothese über den Entstehungshintergrund könnte man meinen, hier kämen Grundsätze aus einem ganz anderen Gebiet der Beschäftigung mit der Antike zum Zuge: Der Philologie. So wie ein humanistischer Philologe seit Petrarca alle verfügbaren Quellen eines Textes aufspürte, sie in Vergleich zueinander setzte, Lesarten und Interpretationen für Lücken auf der Basis des Vorhandenen entwickelten oder ausschloß, so scheinen auch die Zeichner des vorliegenden Codex – oder eher: ihre Auftraggeber – bei der Entwicklung ihrer Bauaufnahme-Systematik und deren Umsetzung vorgegangen zu sein.
Für die Hypothese, daß die Zeichnungen im Auftrag eines oder mehrerer Auftraggeber entstanden, sprechen die Beischriften, die sich auf vielen Blättern finden. In ihnen bemühen sich die Zeichner nicht nur, möglichen Mißverständnissen von Darstellungen vorzubeugen, sondern auch, dies in einem „französischen“ Italienisch zu tun – was eigentlich nicht notwendig wäre, wenn wir es nur mit französischen Handwerkern und ihrem eigenen Interesse an der Antike zu tun hätten.
Da sich aber zumindest eine der Inschriften auf Französisch an einen Auftraggeber wendet [„Simon Travail ...“], darf man vermuten, daß die Gruppe der Auftraggeber sowohl aus Italienern als auch Franzosen bestand.
Die Arbeitshypothese, auf die ich durch die Forschungen Henning Wredes (u.a.) gekommen bin, lautet daher, daß der Codex Destailleur D sowie die Blätter aus demselben Entstehungszusammen-hang im Auftrag der Accademia della Virtù entstanden: Ihr Programm sah – neben vielem anderen – ein Werk über die Architektur Roms vor, in dem alle bekannten Bauten in Grundriß, Aufriß und Schnitt und mit Maßangaben in antiken Fuß sowie einem architektonischen und einem historischen Kommentar dargestellt werden sollten.
Laut Vasari beauftragte die Accademia auch den jungen Jacopo Barozzi da Vignola denn auch mit der Vermessung „aller antiken (Bauten) Roms“ – allerdings sind entsprechende Zeichnungen von Vignola selbst nicht erhalten. Man könnte sich aber vorstellen, daß diese entweder wie so vieles andere auch verloren gegangen sind, oder aber daß Vignola als Leiter der Kampagne nicht selbst mit dem Anfertigen der Zeichnungen beschäftigt war.
Diese Hypothese könnte zum einen die unvergleichliche Vollständigkeit der meisten Bauaufnahmen erklären; zum anderen aber auch das Fehlen von Inschriften und Skulpturen – denn hierfür wären in diesem großen arbeitsteiligen Projekt andere zuständig gewesen.
Warum arbeiteten die Zeichner des CDD jedoch mit dem zeitgenössischen französischen Fußmaß und nicht mit dem antiken? Bekanntlich hatte das Akademie-Mitglied Marcello Cervini, der spätere Papst Marcellus II. selbst noch einige Jahre den jungen französischen Architekten Philibert de L'Orme in Rom bei Vermessungen angetroffen und ihm geraten hatte, den antiken Fuß zu verwenden, da er so schneller auf einfache Maßverhältnisse kommen würde. Nun, inzwischen dürften die Akademie-Mitglieder selbst gelernt haben, daß es „DAS antike Fußmaß“ nicht gab: Tatsächlich enthält der Codex 6038 in der Vatikanischen Bibliothek – eine umfangreiche Inschriftensammlung aus dem Umkreis der Accademia – mehrere antike Fußmaße in Originalgröße mit Herkunftsangaben, die um max. fast 2 cm voneinander abweichen: Spätestens damit mußte einem (philologisch) geschulten Antiquar deutlich sein, daß es sehr schwierig sein würde, einem bestimmten Bauwerk ein festes Fußmaß zuzuordnen. Daher dürfte es sich angeboten haben, den wesentlich feiner unterteilten frz. Fuß zu verwenden, dessen kleinstes Maß, die Linie, ca. 0,7 mm entspricht. Eine Umrechnung in ein antikes Fußmaß konnte zum Zwecke der Publikation dann immer noch erfolgen; die umfangreichen Vermessungsarbeiten dagegen schneller vonstatten gehen.
Aber selbst wenn sich diese Hypothese nicht bestätigen sollte, stellt das Material, das der Codex Destailleur D sowie die Zeichnungen aus seinem Umkreis enthalten, einen unermeßlichen Reichtum für die heutige Archäologie dar, denn sie dokumentieren die antiken (wie auch die zeitgenössischen) Bauten (was von Architekturhistorikern auch noch nicht umfassend genutzt wurde) in einer selbst nach moderne Maßstäben wissenschaftlichen Art und Weise und in Zuständen, die oft kurze Zeit später oder noch bis in das 20. Jahrhundert hinein zerstört wurden. Dieser erstaunlich moderne methodische Ansatz allein dürfte, neben dem zu erschließenden Material, genug Stoff für eine intensive Beschäftigung bieten – umso mehr, wenn sich die geäußerte Arbeitshypothese bestätigen lassen sollte: Dann hätten wir mit dem also zumindest in großen und wichtigen Teilen realisierten Programm der Accademia – zusammen mit den Codices Coburgensis und Pighianus und den vatikanischen Inschriftencodices 6038 und 6039 – einen bisher zu wenig beachteten Materialkomplex vorliegen, der durchaus das Etikett „Geburtsurkunde der wissenschaftlichen Archäologie“ verdient haben könnte – wenn diese Arbeit bruchlos fortgesetzt worden wäre. Dies scheint aber nicht der Fall gewesen zu sein – umso wichtiger aber ist es, dieses Material heute endlich aufzuarbeiten und der Spezialforschung in Archäologie, Kunst- und Architekturgeschichte, Epigraphik und Philologie sowie – last but not least - Wissenschaftsgeschichte zur Verfügung zu stellen ... und Sie, lieber Herr Wrede, haben dazu, gemeinsam mit Richard Harprath, den Grundstein gelegt und den sicherlich bisher größten Beitrag geleistet, auf dessen Fortsetzung wir alle, ich aber ganz besonders, gespannt sind.