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3.2 Kontext und Folgen des Akademie-Projekts

Die Wirkung der bisher erwähnten Publikationen der Akademiker sowie ihrer Schüler und Zeitgenossen insbesondere auf die Architektur der folgenden Jahrhunderte — laut Tolomei das eigentliche Ziel des gesamten Programms — lässt sich sicherlich kaum überschätzen: Die Schriften Vignolas, Palladios und Barbaros wurden immer wieder gedruckt und galten mindestens bis Anfang des 20. Jahrhunderts und den Beginn der ‘Bauhaus-Moderne’ als vorbildlich und stilbildend: Und selbst wenn die darin vorgeschlagene Formensprache nicht mehr als verbindlich angesehen wird, so können ihre grundsätzlichen Überlegungen und systematischen sowie methodischen Ansätze zweifellos heute noch Gültigkeit beanspruchen.

Als eine bisher kaum als solche beachtete, kunsthistorisch relevante Folge der Forschungen der Accademia lässt sich bspw. nun dank der wichtigen Arbeit Kaspar Zollikofers (2016) die Cappella Gregoriana in St. Peter und deren Ausstattung mit Marmorinkrustationen ansehen, denn viele der daran Beteiligten wirkten an den Forschungen der Accademia mit oder müssen mit ihnen dank enger persönlicher Kontakte zu den Akademikern vertraut gewesen sein. Diese Wiederbelebung antiker Innenraumgestaltung entspricht nicht nur dem von Tolomei explizit formulierten Ziel des überlieferten Programms — der theoretischen wie praktischen Renaissance antiker Architektur —, sondern ist auch als Vorbild für spätere Raumausstattungen kaum zu überschätzen: Echte oder fingierte Steinverkleidungen finden sich in nahezu jeder Barock-Kirche!

Neben den bisher nur eher zufällig im Rahmen der Forschungen zu den Architekturzeichnungen entdeckten Quellen (s. Anhang 3) und ihren möglichen Beziehungen untereinander über das Netzwerk der beteiligten Personen (s. Anhang 1) ist bei koordinierter Suche sicherlich noch mit vielen weiteren Funden zu rechnen, die bisher als oftmals anonyme Werke privaten Antikenstudiums galten und/oder aufgrund des geringen Bekanntheitsgrades ihrer Autoren oder des dokumentarischen, eher ‘uninspiriert’ wirkenden Erscheinungsbildes kaum Beachtung seitens der Forschung nach ca. 1700 fanden.

Die stilistisch den Codices Coburgensis und Pighianus durchaus ähnlichen ca. 425 Zeichnungen antiker Statuen und Büsten aus der Werkstatt Stradas (heute in Wien und Dresden) unterscheiden sich zwar von jenen dahingehend, dass sie die Objekte nicht mit derselben Präzision samt aller Bruch- und Fehlstellen dokumentieren, sie lassen sich vermutlich jedoch trotzdem in Teilen dem Entstehungskontext der Accademia allein aufgrund Stradas fast täglicher Treffen mit den Akademikern zwischen 1553–1555 und seiner daher sicherlich sehr guten Kenntnis ihres Programms zurechnen. Stradas Abweichungen von der ‘exakten’, quasi ‘archäologischen’ Dokumentation ließen sich durchaus damit erklären, dass diese Reinzeichnungen wie auch viele seiner Münzzeichnungen (z. T. nach Auflösung der Accademia) für andere Auftraggeber bzw. potentielle Käufer entstanden. Hier wären daher unbedingt weiterführende Untersuchungen nötig, zumal diese Konzentration und einheitlich-systematische Ausführung von Darstellungen antiker Plastik wohl bis ins 17. Jahrhundert (Sandrart) nicht ihresgleichen hat.

Überhaupt sei hier darauf hingewiesen, dass die vielfältigen antiquarischen und architektonischen Tätigkeiten Stradas nach Dirk Jansens vielen neuen Erkenntnissen zu dessen Biographie (2015/2019) unbedingt weiterer Forschungen und einer Neubewertung bedürfen, insbesondere bezüglich Stradas vielfältiger, jahrzehntelanger Beziehungen zur Accademia bzw. ihren führenden Mitgliedern. Neben den genannten Zeichnungen wären zu nennen: die farbige Dokumentation der Loggien Raphaels und des Palazzo Té, die federführende Beteiligung am Münchner Antiquarium (dem wohl ersten dezidierten Museumsbau dieser Dimension), am Wiener Schloss Neugebäude (dito) sowie evtl. an der Wiener Stallburg. Allein deren riesige Baukörper und ihre (angestrebte) exzeptionelle Funktion und Bedeutung sollte ihnen ein ebenso großes Interesse seitens der Forschung sichern wie zeitgenössischen römischen Bauten. Es ist sogar denkbar, dass bspw. die extrem reduzierten Hofarkaden der Stallburg als ein ästhetisches statement gegen Michelangelos ‘frühbarocke’, anti-klassizistische Dekoration des einzigen vergleichbaren Hofes (dem des Palazzo Farnese) intendiert waren. Eine Neubewertung der mit der Accademia in Verbindung zu bringenden Bauten — deren klassizistische Elemente möglicherweise weit stärker auf die intendierte Wiedererweckung antiker Architektur und deren Interpretation zurück gehen, als bisher vermutet werden konnte — erscheint also ebenso unverzichtbar wie die koordinierte Erfassung und Neubewertung der erhaltenen Zeichnungen, sonstigen Quellen und Druckschriften aus dem Umkreis der Accademia.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die vielfältigen Beziehungen zwischen den im Anh. 1 aufgelisteten Personen innerhalb der als ‘Netzwerk’ zu bezeichnenden römischen Accademia und ebenso vielfältige Beziehungen innerhalb der einzelnen Quellengruppen und dieser untereinander sowie die Entsprechungen vieler Publikationen dieses Personenkreises mit den von Tolomei beschriebenen Büchern es zumindest äußerst wahrscheinlich machen, dass hier nicht eine statistisch unwahrscheinliche, massive Häufung von Koinzidenzen vorliegt, sondern dass es sich tatsächlich um die Arbeitsergebnisse eines koordiniert und zielstrebig, mit erstaunlich moderner Methodik wissenschaftlich vorgehenden und trotz geringer finanzieller Ressourcen äußerst produktiven Netzwerks handelt, das man trotz des Namens Accademia jedoch nicht mit einer etablierten Institution im modernen Sinne verwechseln sollte. Gerade unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die erhaltenen oder noch nachweisbaren Leistungen dieses Personenkreises als besonders beeindruckend! Einige dieser Arbeitsergebnisse gelten zwar als Meilensteine der Wissenschaftsgeschichte und sind daher gut be-, aber noch nicht als einem gemeinsamen Entstehungkontext entstammend erkannt. Ihre Einbettung in das Gesamtprojekt verleiht ihnen und den noch unbearbeiteten Materialien der Accademia eine umso größere Bedeutung, die dessen konzentrierte Erschließung als wissenschaftliche Grundlagenforschung par excellence rechtfertigen sollte, da hierdurch nicht nur wichtiges Quellenmaterial für mehrere historisch arbeitende Wissenschaften erstmals erschlossen würde, sondern zugleich grundlegende Neubewertungen sowohl der wissenschaftlichen Antikenrezeption als auch ihrer Folgen zu erwarten sind. Neueste Erkenntnisse aus dem Umkreis der History of the Humanities zum Einfluss der historischen Wissenschaften vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf die Methodik und Systematik der sich herausbildenden Naturwissenschaften lassen gerade das Projekt der Accademia zudem in einem wissenschaftshistorisch neuen Licht und als von herausragender Bedeutung erscheinen.

Insgesamt wäre es das Ziel eines ca. zehnjährigen Forschungsvorhabens, in internationaler und interdisziplinärer Zusammenarbeit die von der Accademia erarbeiteten Quellen zu identifizieren, ihre Zugehörigkeit zu diesem Kontext zu verifizieren, ihre Auswirkungen auf die unten erwähnten bzw. weitere Publikationen nachzuweisen und — beispielhaft — deren wissenschaftliche, wissenschaftshistorische wie auch praktische Relevanz darzulegen. Die Finanzierung eines solchen Projekts dürfte 10 Mio. CHF kosten, sollte aber angesichts der kaum zu überschätzenden Bedeutung des für die Forschung wieder zu gewinnenden Materials und fachübergreifender Synergieeffekte gerechtfertigt, wenn nicht gar ein wissenschaftliches Muss sein: Allein die mir als Architekturhistoriker natürlich ‘nächsten’ Werke Vignolas, Barbaros und Palladios lassen sich in ihren Auswirkungen auf die Entwicklung der westlichen Architektur und deren Theorie bekanntlich kaum überschätzen: Ein Gang durch westliche (oder koloniale) Städte mit ihrer klassizistischen Architektur genügt als Beleg, denn nichts davon ist ohne Palladio und Vignola vorstellbar. Und es ist kaum auszuschließen, dass Ähnliches für die anderen Dokumentationen antiker Artefakte zumindest ansatzweise gilt. Doch dazu müssen diese ‘Schätze’ zuerst einmal ‘gehoben’, beschrieben und analysiert werden! Angesichts der sich in vielfältigen Initiativen und neuen, leider oft befristeten Institutionen und Gründungen wie TOPOI zeigenden wachsenden Bedeutung, welche der Antike und ihrer Rezeption für die ‘abendländische’ Kultur sowie deren Quellen und globalen Ausstrahlungen zugemessen wird, erscheint es gerade vor dem Hintergrund der Fortschritte in der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte geboten, diese Materialien — vielleicht die Ergebnisse des größten jemals durchgeführten Projektes dieses Umfangs und dieser Qualität! — für Forschung und interessierte Öffentlichkeit wieder zu erschließen.