4. Ein internationales, interdisziplinäres Forschungsprojekt
Die Rekonstruktion des Accademia-Projekts und die koordinierte Erschließung der von ihm erzeugten Quellen darf als eines der größten Desiderate nicht nur der Wissenschaftsgeschichte der involvierten historischen Disziplinen angesehen werden, inbesondere da sie umfangreichste neue Erkenntnisse über die antiken Artefakte ermöglichen, von denen viele seit ihrer präzisen Dokumentation in der Renaissance beschädigt wurden oder verloren gegangen sind. Dass dies bisher nur in wenigen Ansätzen geschah, ist auf die heutige Verteilung der einzelnen Quellen auf dutzende Sammlungen in Europa und Nordamerika, ihre anonyme Herkunft, ihr oft unspektakuläres, ‘dokumentarisches’ Erscheinungsbild und insbesondere die Schwierigkeit ihrer Bearbeitung und der Erschließung ihres Entstehungskontextes zurück zu führen, der sich erst langsam im interdisziplinären Überblick zeigt. Diesen konnte sich der Verfasser mit Hilfe einiger Wissenschaftlerkolleginnen und -kollegen erst gegen Ende des o. g. SNF-Projekts (2017) erarbeiten.
Was sich mit Bezug auf die Architekturzeichnungen über deren kaum zu überschätzenden Quellenwert sagen lässt, gilt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch für die anderen Dokumentationen, von denen nur die Inschriftensammlung Jean Matals im Vatikan und die darauf offenbar beruhende Sylloge Martin Smets — die postum von Justus Lipsius herausgegeben wurde und dessen (!) Ruhm begründete — bisher im von Theodor Mommsen begründeten und noch heute an der Berlin–Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) arbeitenden Corpus Inscriptionum Latinarum erfasst wurde. Sie bildete wohl sogar dessen Ausgangspunkt und Grundstein. Doch werden die Dokumente aus der Renaissance im CIL aufgabengemäß nur als unterstützende, nicht als Quellen eigenen wissenschaftshistorischen Werts bearbeitet. Für die Münzzeichnungen, insbesondere das riesige, mehr als 40 Bände und über 12’000 kommentierte Einzelzeichnungen umfassende Corpus Jacopo Stradas, das seit 2015 durch Dirk Jansen und Volker Heenes im Rahmen eines DFG-Projekts erstmals im Überblick erschlossen wird, sowie für die durch Henning Wrede und Kathrin Schade noch nicht abgeschlossene Katalogisierung der Codices Coburgensis und Pighianus gilt Ähnliches: Alle diese Quellen dokumentieren heute stärker beschädigte oder gar verlorene antike Artefakte mit einer Präzision und oft erhellenden Angaben über Fundort und Deutung, die nicht nur ihresgleichen suchen, sondern für ihr Verständnis unverzichtbar sind.
Für die vollständige, kommentierte Erschließung des gesamten in handschriftlicher oder gedruckter Form vorliegenden Materials wäre eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zu bilden. Diese sollte mindestens aus jeweils 1–2 Architektur- und Kunsthistorikern, Philologen, Archäologen, Numismatikern, Epigraphikern, Wissenschafts- und Technikhistorikern, insgesamt also mindestens 8, eher aber 16 Mitwirkenden auf PostDoc-Niveau bestehen und über eine Dauer von ca. 10–12 Jahren arbeiten können. Einzelne Teilaufgaben wie die 174 Zeichnungen antiker Statuen, die ca. 250 Zeichnungen nach Porträtbüsten aus Stradas Werkstatt oder aber die Dokumentationen einzelner antiker Bauten ließen sich jedoch vermutlich auch sehr gut als Master- oder eher Dissertationsthemen bearbeiten und durch entsprechend befristete Stellen dem Projekt angliedern. Unverzichtbar erscheint zudem die Einbindung externer Fachleute im Rahmen eines — ebenso wie die Accademia — internationalen, interdisziplinären Forschungsnetzwerks bspw. durch regelmäßige Workshops und Tagungen, auf denen die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse vermittelt und ergänzende Informationen zu Spezialthemen gewonnen werden könnten. Eine engstmögliche Kooperation besonders mit dem Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance der BBAW (der aber zeitgenössische Artefakte ausschließt, während diese im Projekt der Accademia offenbar als gleichwertige Vorbilder dokumentiert wurden), dem Projekt zur Edition der Manuskripte Pirro Ligorios sowie der Edition des Museo cartaceo Cassianos dal Pozzo ist natürlich ebenso unverzichtbar wie diejenige mit laufenden archäologischen Forschungen und der historischen Bauforschung, die auf eine über einhundertjährige Tradition in der Untersuchung vieler zu behandelnder Bauten zurückblicken kann. Daneben wären die laufenden Projekte zur Erforschung (vorerst nur italienischer) frühneuzeitlicher Akademien und Netzwerke mit einzubeziehen. Aufgrund der Quellenverteilung wäre die Anbindung einzelner Stellen an diese besitzende Bibliotheken, Archive, Akademien und Stiftungen wünschenswert.
Eine Untersuchung und Dokumentation der Wasserzeichen aller verwendeten Papiere erscheint wichtig, da z. B. mehr als die Hälfte der Zeichnungen aus Stradas Werkstatt in Wien, Paris und Gotha auf mittelitalienischen Papieren vorliegen, also ein großer Teil davon in Rom entstanden sein dürfte, wo Strada auch die Reliefs der Trajanssäule sowie Raphaels Vatikanische Loggien dokumentierte: Minutiöse Handschriftenvergleiche könnten zudem zur Identifikation der ca. 40 Architektur– und ca. 30 weiteren, anonymen Zeichner der Accademia beitragen, unter denen bisher nur Armenini und Dosio bekannt sind.
Neben den genannten Quellen ist der Nachlass Marcello Cervinis im Archivio di Stato in Florenz von Bedeutung: Von den dort vorhandenen 76 Bänden konnten 2015 während eines zweiwöchigen Aufenthaltes nur 30 durchgesehen werden, da im Archiv nur maximal drei Bände pro Tag ausgehändigt werden. In diesen fanden sich einige wenige Briefe u. a. Claudio Tolomeis, die jedoch keinen Bezug zu den gemeinsamen Antikenstudien zeigten, sowie solche Bernardino Maffeis, der als Erbe einer umfangreichen Antikensammlung und als Sekretär Cervinis in Rom diesen während der Leitung des Tridentinums u. a. über die Auffindung der Fasti Capitolini informierte. Es ist also damit zu rechnen, dass sich in den verbleibenden 46 Bänden weitere solche Briefe finden, die über antiquarische Aktivitäten und die Interessen Cervinis und seiner Mitstreiter Auskunft geben könnten. Ähnliches gilt vermutlich für die sehr umfangreich erhaltene Korrespondenz Kardinal Granvelles. Mit vielen weiteren Quellenfunden in den persönlichen Nachlässen der Akademiker ist ebenfalls zu rechnen: So ist es bspw. nicht ausgeschlossen, dass sich Aufzeichnungen Agostino Steucos zu seinen Untersuchungen der römischen Aquädukte erhalten haben oder dass die über Europa verstreuten Briefe Antonio Agustíns und Jean Matals noch weitere umfangreiche Informationen enthalten. Allein die Auswertung der bereits im 16. Jahrhundert gedruckten Briefe und Gedichte (!) aus dem Umkreis der Accademia und weiterer ‘Antiquare’— kürzlich begonnen durch Damiano Acciarino — verspricht zusätzlich viele Einzelinformationen über deren Aktivitäten.
Die gesamte Dokumentation sollte über ein interaktives Online-Portal erfolgen, so dass deren Fortschritt jederzeit für die scientific community sichtbar wäre, die über geschützte, namentliche Accounts in die Arbeit eingebunden werden könnte. Dieses Portal sollte zugleich die schnellstmögliche Erstellung druckfähiger Texte erlauben, da eine langfristige Softwarelösung (> 50 Jahre) zur kontinuierlichen Nutzung digitaler Forschungsdaten noch nicht verfügbar ist. Die Weiterentwicklung einer freien Software der Berner Firma 4teamwork für so ein Portal wurde vom Verfasser als Mentor im Google Summer of Code 2016 betreut.