3. Das Publikationsprogramm der Accademia
Ziel des äußerst ambitionierten Projektes in der Beschreibung Tolomeis war nicht etwa nur die Befriedigung der Neugier einiger überambitionierter ‘Antiquare’, sondern die systematische Wiedergewinnung und Systematisierung alles antiken Wissens über Architektur für die Neuzeit. Dazu sollte nicht nur die einzige erhaltene antike Abhandlung zur Architektur — Vitruvs De architectura libri decem — erstmals philologisch emendiert, ediert, übersetzt, kommentiert sowie durch Lexika und abgeleitete Regelwerke für die Praxis nutzbar gemacht werden (Bände 1–11), sondern man wollte auch alle antiken Bauten Roms dokumentieren sowie sowohl deren Lokalisierung und die urbanistische Entwicklung der Urbs Roma in der Antike als auch alle sonstigen Quellen, die für das Verständnis der Bedeutung und Nutzung historischer Architekturen von Belang sein könnten: Münzen, Inschriften, Instrumente, Maschinen, Malereien, Aquädukte u. a. m. Zusätzlich wollte man alle zur Dekoration von Architektur genutzten Elemente erfassen wie Ornamente, Reliefs, Statuen, Vasen etc. (Bände 12–24). Das von Tolomei erläuterte aber sicher nicht allein erarbeitete Programm geht im ersten Teil vermutlich auf Vorschläge Antonio da Sangallos d. J. für eine neue Vitruv-Edition von 1531 zurück (überarbeitet 1539). Die laut Tolomei geplanten Bände sind folgende:
1. lateinische Kommentierung der schwierigen Stellen bei Vitruv [+]
2. philologisch-kritische Übersicht aller erhaltenen Textversionen Vitruvs (inkl. Vergleich) [×]
3. darauf basierende Neuedition Vitruvs inkl. rekonstruierter Darstellungen [+]
4. kommentiertes lateinisches Wörterbuch der lateinischen Fachbegriffe Vitruvs [×]
5. kommentiertes lateinisches Wörterbuch der griechischen Fachbegriffe Vitruvs [×]
6. philologischer Kommentar zu Vitruvs Latein im Vergleich zu dem anderer antiker Autoren
7. Neuübersetzung Vitruvs in ‘korrekte[re]s’ Latein [!]
8. Neuübersetzung Vitruvs in das moderne (= toskanische) Italienisch [+]
9. kommentiertes italienisches Wörterbuch der architektonischen Fachbegriffe Vitruvs [×]
10. kommentiertes italienisches Wörterbuch aller Werkzeuge und architektonischen Details [×]
11. übersichtliche Zusammenstellung der architektonischen Regeln Vitruvs für die Praxis [+]
12. kommentierte Chronologie der urbanen Entwicklung Roms in der Antike [+]
13. kommentierte und illustrierte Dokumentation aller erhaltenen Bauten in Rom und Umgebung [+]
14. dass. für Grabsteine und Sarkophage [+]
15. dass. für Statuen mit kunsthistorisch-kritischem bzw. stilistischem Kommentar [+]
16. dass. für Friese, Reliefs u. ä. [+]
17. dass. für vereinzelt erhaltene architektonische Elemente wie Basen, Kapitelle, Gebälke etc. [+]
18. dass. für Vasen und andere Objekte, die zur Dekoration von Bauwerken dienten [+]
19. dass. für Werkzeuge und Geräte («Instrumente» im weitesten Sinne) [+]
20. dass. für Inschriften [+]
21. Übersicht der bekannten (d. h. nicht nur der erhaltenen) Gemälde und gemalter Baudekorationen
22. kommentierte und illustrierte Dokumentation aller Münzen und Medaillen [+]
23. Rekonstruktionen der von antiken Autoren beschriebenen (Bau-) Maschinen [+]
24. Rekonstruktion der Aquädukte in Rom und Umgebung [+]
[+] = Drucke und vorbereitende Materialien identifiziert [×] = Indizien für deren Existenz vorhanden
Bisher wurden nur Philandriers Annotationes zu Vitruv (1544), der Codex Coburgensis (Veste Coburg) und der hierzu teilparallele Codex Pighianus (Berlin, SBB–PK, ca. 1550–55) mit ihren höchst präzisen und erstmals systematisch geordneten Aufnahmen antiker Reliefs sowie die drei Pläne zur urbanen Entwicklung Roms in der Antike in der zweiten Auflage der Topographia Marlianos (1544) als Ergebnisse des Projekts angesehen. Daher galt es als nicht realisiert und aufgrund seines Umfangs auch als gar nicht realisierbar.
Ausgehend von den erwähnten Forschungen zur wohl umfangreichsten Gruppe anonymer Architekturzeichnungen (Anh. 4), die sich diesem Projekt nun zuordnen lässt, konnten jedoch zunehmend Belege dafür gefunden werden, dass nahezu alle von Tolomei genannten 24 Teilthemen nicht nur bearbeitet wurden, sondern die dabei entstandenen Quellen größtenteil auch erhalten und zudem in eine Vielzahl von Publikationen seitens der Mitglieder der Accademia oder ihrer Schüler eingeflossen sind. Hierzu gehören mehrere der wichtigsten frühen Bücher zur Architektur und ihrer Theorie, zur Topographie, Geschichte, Religion, Kunst/Plastik, Numismatik, Epigraphik und Technik des antiken Rom (Anh. 2). Dass ihr Zusammenhang untereinander und zu den oft anonym in Manuskriptform erhaltenen Dokumentationen bisher nicht erkannt wurde, könnte auf die konsequent zur Bewältigung der Materialmenge angewandte Arbeitsteilung im Accademia-Projekt selbst zurückzuführen sein, die man vermutlich als eine der frühesten und wichtigsten Wurzeln der modernen disziplinären Teilung in den historischen Wissenschaften ansehen kann bzw. muss. Tatsächlich lässt sich das Projekt der Accademia als das erste internationale, interdisziplinäre Forschungs- und Dokumentationsvorhaben charakterisieren, welches methodisch und systematisch nach wissenschaftlichen Kriterien im modernen Sinne vorging. Und gemessen am Unfang seiner Ergebnisse und Auswirkungen ist es hinsichtlich der Architektur und der genannten Wissenschaften vermutlich zugleich eines der erfolg- weil folgenreichsten Projekte der europäischen Wissenschaftsgeschichte überhaupt.