3.3 Exkurs zu den Architekturzeichnungen
Im September 2013 hatte der Schweizerische Nationalfonds (SNF) einem Gesuch Prof. Dr. Andreas Tönnesmanns († Mai 2014) zur Förderung eines Projekts stattgegeben, das sich den Architekturzeichnungen im (Umkreis des) Berliner Codex Destailleur D (Kunstbibliothek, Hdz 4151) widmen sollte: Ausgangspunkt waren die Beobachtungen Hermann Eggers (1903) zur Parallelität der 120 Berliner und 39 weiterer Blätter in der Wiener Albertina sowie die bereits in der Dissertation des Verfassers (2002) zu den St.-Peter-Zeichnungen im Berliner Codex geäußerte Vermutung, dass dieser im Auftrag der sog. Accademia della Virtù entstanden sein und dem durch Tolomeis Brief überlieferten Projekt zugeordnet werden könnte. Nach Besuchen im New YorkerMetropolitan Museum of Art und im Stockholmer Nationalmuseum ließ sich vermuten, dass weitere ca. 60 Blätter diesem Kontext zuzuweisen wären, darunter insbesondere eine bemerkenswert umfangreiche und detaillierte Gruppe von Vermessungen des römischen Pantheons.
Im Laufe dieser Forschungen stellte sich heraus, dass die im Antrag vorausgesetzten ca. 220 Blätter mit ca. 1’200 Einzelzeichnungen nur den Kernbestand einer weit umfangreicheren Gruppe von (aktuell) mindestens 875 Blättern mit ca. 3’500 Einzelzeichnungen bilden, an deren Entstehung über ca. 20 Jahre bis zu 40 verschiedene Zeichner beteiligt waren. (Einige könnten sich jedoch noch als unterschiedliche Versionen derselben Hände erweisen). Neben den im Berliner Codex vorherrschenden Vermessungszeichnungen konnten zudem weitere Stadien eines seriellen, offensichtlich abgestimmten ‘Produktionsprozesses’ identifiziert werden, der von solchen Vermessungsskizzen über Reinzeichnungen mit sauberer, aber nicht proportionsgerechter Darstellung aller Maße bis zu maßstäblichen Druckvorlagen und schließlich Drucken reichte. Zugleich weisen viele Zeichnungen Übereinstimmungen zeichnerischer Charakteristika mit gleichzeitigen figürlichen Zeichnungen nach antiken Münzen aus der Werkstatt Jacopo Stradas und Zeichnungen nach Reliefs in den Codices Coburgensis und Pighianus auf, so dass hier kaum von simpler Koinzidenz auszugehen ist, sondern sich vielfältige Querverbindungen zu den anderen, im Anhang genannten Quellengruppen desselben Entstehungskontexts und also einheitliche Arbeitsvorgaben vermuten lassen.
Gerade die Komplexität der Beziehungen zwischen den ca. 3’500 Architekturzeichnungen, die sich eher nur in Ausnahmen als eindeutiges Verhältnis von Original und Kopie charakterisieren lässt (das insbesondere Egger annahm), sowie die regelmäßige Arbeit mehrerer Zeichner an einem Blatt in diversen, sich überschneidenden Gruppierungen machten es schlichtweg unmöglich, im Rahmen des dreijährigen SNF-Projekts trotz einer sechsmonatigen Abschlussverlängerung die Katalogisierung und vollständige Beschreibung sowie Analyse wenigstens einiger ausgewählter Gruppen des Gesamtbestandes (insbesondere der 120 Berliner und der inzwischen über 100 Albertina-Blätter) im wünschenswerten oder auch nur im notwendigen Umfang abzuschließen, da durch noch ausstehende Vergleiche mit anderen Blättern grundlegende weitere Erkenntnisse über Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Datierungen zu erwarten sind, ohne die ein Katalog nur einen vorläufigen, notwendig mangelhaften Charakter haben konnte:
Beispielsweise enthalten die New Yorker Goldschmidt- und Scholz-Skizzenbücher neben den erwähnten äußerst detaillierten Vermessungen des Pantheons eine zusätzliche Gruppe unvollendeter Zeichnungen dieses Baus, zu denen es parallele Gruppen in Stockholm, Montreal und München gibt. 2015 entdeckte Francesca Mattei in Ferrara eine weitere Gruppe, die dort wiederum mit auf «Mai 1551» datierten Zeichnungen der Trajanssäule verbunden ist, welche eindeutig Ergänzungen zu den bereits von Hermann Egger beschriebenen Wiener Blättern darstellen, jedoch noch nicht als Zeichnungen desselben Monuments aus demselben Entstehungskontext erkannt wurden: Sie stammen von einem der Zeichner, der auch im Berliner Codex Destailleur D vertreten ist und bilden zugleich Vorlagen für entsprechende Stiche in Antonio Labaccos Libro appartenente all’Architettura (1552). Dieses wiederum wurde von Christof Thoenes überzeugend als Ergänzung zu Vignolas Regola (ca. 1562) interpretiert: Die Erstauflagen beider Bücher entstanden vermutlich auf derselben Druckerpresse in Labaccos Haus. Als Sangallos engster Mitarbeiter stellte Labacco zudem dessen Projektzeichnungen für St. Peter der Accademia zur Verfügung.
Dass diese bzw. die Zeichnungsvorlagen und andere Bauaufnahmen wiederum auch durch Palladio rezipiert wurden — vermutlich während seiner römischen Aufenthalte in Begleitung seines Mentors Trissino in den 1540er Jahren und später, in den frühen 1550 Jahren, in Begleitung Barbaros — sei nur (nochmals) am Rande erwähnt. Nicht nur gibt es mehrere Indizien, dass der junge Steinmetz Andrea di Pietro della Gondola zumindest zeitweilig an der römischen Vermessungskampagne teilnahm, aus der die hier interessierenden Zeichnungen hervor gingen, sondern er könnte auch bei den Diskussionen der Akademiker anwesend gewesen sein. Trissino wiederum vermittelte vermutlich den Kontakt mit Daniele Barbaro, dem Palladio mit dem in Rom erworbenen Wissen zur antiken Architektur bei der 1556 publizierten kommentierten Vitruvübersetzung nicht nur als Illustrator zur Seite stand. Es erscheint bemerkenswert, dass diese Ausgabe sehr genau der Beschreibung des 3. Buches im Accademia-Programm entspricht und im Jahr nach Cervinis Tod und der damit wohl einhergehenden Auflösung der Accademia erschien. Palladios viertes der Quattro libri von 1570 sowie seine geplanten Bände zu Triumphbögen und Thermen entsprechen wiederum Tolomeis Beschreibung des 13. Buches im Programm, wenn auch in reduzierter Form: Die architektonischen und historischen Kommentare beschränken sich auf kurze Texte, und die enthaltenen Holzschnitte erreichen nicht die Genauigkeit der erhaltenen Zeichnungen.
Volker Heenes wies 2016 auf eine Zeichnungsgruppe zur Trajans-Säule hin (Reste eines Pergament-Rotulus in Privatbesitz), welche die umlaufenden Reliefs in genau derselben Manier zeigen — und vielleicht sogar durch dieselben Zeichner ausgeführt wurden — wie die Codices Coburgensis und Pighianus (antike Reliefs), die Zeichnungen aus Stradas Werkstatt (Münzen, Statuen und Büsten) und die Zeichnungen figürlicher Details in den erwähnten Architekturzeichnungen. Diese Zeichnungen zur Trajans-Säule dürften um dieselbe Zeit — vermutlich also sogar in derselben Vermessungsaktion — entstanden sein wie die erwähnten Bauaufnahmen in Wien und Ferrara. Sie wären dann ein weiterer Beleg für das arbeitsteilige Vorgehen, welches — m. W. erstmals — die gesamte Tätigkeit der Accademia auszeichnet: Während also bspw. die ‘Architekturgruppe’ ausschließlich für Bauaufnahmen zuständig war, dabei jedoch sogar die von anderen (bis ins 19. Jh.) übergangenen Wasserleitungs- und Heizungssysteme, Dachlandschaften und Kellerräume erfasste, zeichneten andere Spezialisten die figürlichen Reliefs; weitere dokumentierten in derselben Weise die Inschriften sehr minutiös, um die spätere Deutung nicht mit vorgreifenden Interpretationen zu kontaminieren: Auch dies ein Vorgehen, das nahezu alle Dokumentationen der Accademia charakterisiert und kaum anders denn als wissenschaftlich im modernen Sinne bezeichnet werden kann.
Die zahlreichen Philologen in der Accademia dürften dafür verantwortlich sein, dass diese bereits seit dem 14. Jahrhundert entwickelte Methodik der vollständigen, möglichst interpretationsfreien Dokumentation antiker Vorlagen zur Erstellung verlässlicher ‘Urtexte’ aus der Philologie in die anderen Arbeitsbereiche übertragen wurde. Die erstaunlich systematische, alle Aspekte berücksichtigende philologische Methodik in Tolomeis Beschreibung der Vitruv gewidmeten ersten 11 Bände stützt diese Vermutung.
Es sei hier außerdem erwähnt, dass mindestens einer der Zeichner des Codex Destailleur D in Zeichnungen antiker Architektur im ebenfalls in der Berliner Kunstbibliothek SMB-PK befindlichen (vermutlich nach 1682 zusammengestellten) Klebeband OZ 109 auftritt. Dort werden die architektonischen Vermessungen mit den von anderen dokumentierten figürlichen Details zusammen geführt. Dieser Zeichner bedient sich derselben Technik, wie sie für die erwähnten figürlichen Zeichnungen charakteristisch ist. Damit schlösse sich der Kreis zwischen den verschiedenen mit der Dokumentation befassten Arbeitsgruppen in der Herstellung solcher, als Druckvorlagen anzusprechender Blätter, wie sie (nicht nur) OZ 109 enthält.
Dieser Exkurs mag andeuten, wie komplex das Beziehungsgeflecht der Architekturzeichnungen der gesamten Accademia–Gruppe untereinander und zu den Zeichnungen und Dokumentationen anderer antiker Artefakte ist! Zugleich sollte erkennbar werden, wie erstaunlich systematisch und methodisch, arbeitsteilig und koordiniert das Accademia-Netzwerk vorgegangen sein muss. Vergleichbares dürfte erst wieder in den archäologischen Großgrabungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu finden sein.
Hinzu kommt jedoch noch die belegbare Kenntnis früherer Vermessungen und Darstellungen (nicht nur) antiker Architektur seitens der Accademia-Zeichnergruppe und ihrer Auftraggeber: Sie reicht von den zeitgenössischen Arbeiten Antonio da Sangallos d. J. und seines Umkreises über die Studien des 1537 verstorbenen Baldassarre Peruzzi und seines Sohnes sowie seines Mitarbeiters Serlio zurück bis zu Raphael: Beispielsweise rekonstruierte ein Zeichner der Accademia nicht nur den Standpunkt, von dem aus Raphaels berühmte ‘falsche’ Innenansicht des Pantheon aufgenommen wurde, sondern wandte auf diesen Standpunkt (südsüdöstlich des Eingangs) bei der Darstellung der Innenansicht des Portals auch dieselbe, leicht aus der Zentralachse verschobene Perspektive an, die Raphael bewusst für dessen Aussenansicht gewählt hatte, um sowohl deren Aufriss als auch die Seitenwände zu dokumentieren.
Der kürzlich erstmals durch Marina Lopukhova sehr präzise katalogisierte sog. Codex Destailleur B der St. Petersburger Eremitage aus dem Umkreis Ligorios, der sich wie Hdz 4151 und OZ 109 einst im Besitz des französischen Architekten Hippolyte Destailleur befand und laut einer Notiz auf dem Einband ehemals Palladio gehörte, sowie vergleichbare Zeichnungen des Akademikers Antoine Morillon stellen zudem eine Verbindung dieses ganzen Zeichnungskomplexes zu Pirro Ligorio her, in dessen Auftrag oder zumindest Umfeld zwei der St. Petersburger Codices entstanden: Ligorio hatte lange Kontakt zu verschiedenen Mitgliedern der Accademia wie Agustín, war in Rom zeitweilig wohl auch selbst ihr Mitglied, hatte sich aber anscheinend im Laufe der Zeit mit diesen überworfen, so dass er sich entschloss, sein über 40 Bände umfassendes Corpus über die Antike weitgehend unabhängig von der Accademia zu erstellen: An seiner Erschließung und Publikation wird noch gearbeitet. Beide Zeichnungsgruppen (Ligorios wie die St. Petersburger Codices) unterscheiden sich jedoch durch geringere Präzision in der Erfassung der Bauten und durch z. T. fantastische Ergänzungen vom hier interessierenden Corpus archäologisch präziser Architekturzeichnungen, die als frühe Bauaufnahmen angesehen werden dürften. Trotzdem sollten die anderen bisher unpublizierten Bände und Einzelblätter der Eremitage aus der Sammlung Destailleurs gesichtet und auf mögliche Verbindung zu anderen Zeichnungsgruppen untersucht werden.
Sicherlich ließen sich noch weitere Belege dafür finden, dass und wie die Akademiker vorhandenes Material bewusst nutzten und ergänzten, um das möglichst umfassendste Bild der antiken Architektur und aller ihrer sozialen, religiösen, politischen und kulturellen Kontexte und Quellen zu erhalten, welches man gegen 1540 noch gewinnen konnte. Zwar konnte die spätere Archäologie mit Grabungen und modernster Technik wie Laserscans dieselben Bauten noch umfassender untersuchen — aber nur, soweit diese infolge von Plünderung und Zerstörung nach 1555 überhaupt noch erhalten sind.