Direkt zum Inhalt | Direkt zur Navigation

Benutzerspezifische Werkzeuge

Sektionen

Einleitung

Die Beschäftigung mit dem letzten Projekt Antonios da Sangallo des Jüngeren für den Neubau von Sankt Peter wurde angeregt durch die Präsentation des dazugehörigen Modells in den Ausstellungen Renaissance — The Representation of Architecture — From Brunelleschi to Michelangelo im Palazzo Grassi, Venedig, sowie deren veränderte Wiederholung unter dem Titel Architekturmodelle der Renaissance im Alten Museum, Berlin, die der Verfasser im März 1994 in Venedig sowie ab Herbst 1995 in Berlin mehrfach besuchen konnte. Ein Seminar bei Horst Bredekamp bot Anregung und Gelegenheit, sich im Rahmen eines Referats und einer — schnell im Umfang wachsenden — Hausarbeit intensiver mit Sangallos Modell zu beschäftigen. [Hierfür ebenso wie für fortgesetzte Unterstützung und ermunterndes Interesse am Fortgang der Arbeit bin ich Herrn Bredekamp sehr dankbar.]

Der Kontakt mit Prof. Christof Thoenes und seine ermunternde Kritik an der Hausarbeit führten zu dem Entschluss, das Modellprojekt Sangallos im Rahmen einer Dissertation bei Prof. Wolfgang Wolters genauer zu untersuchen. Als Ansatzpunkt erschienen die bisher nur von Thoenes erstmalig für die Kataloge dieser Ausstellungen genauer untersuchten Blätter des Berliner Codex Destailleur D (HDZ 4151) [Hier im Weiteren abgekürzt als CDD] geeignet, in denen das Projekt Sangallos minutiös dargestellt ist: Ihr immenser Informationsgehalt versprach nicht nur eine erhebliche Erweiterung des Wissens über das bis dahin grösste nachantike Bauprojekt sowie seine Bau- und Planungsgeschichte in einer von der bisherigen Forschung eher vernachlässigten Phase, sondern auch Einblicke in die Arbeit des vielleicht ersten, nach modernen Prinzipien arbeitenden `Architekturbüros'. Daneben liess sich erwarten, dass die durch die Zeichnungen gegebene Möglichkeit zur genaueren Untersuchung des Sangallo-Projekts zu dessen Verständnis und `Rehabilitierung' beitragen konnte: Denn obwohl sicherlich kaum ein Bauvorhaben in der europäischen Neuzeit so gut dokumentiert ist wie dieses, blieb es in der Architekturgeschichtsschreibung nahezu unbeachtet, was sich weniger darauf zurückführen lässt, dass es nicht bzw. nur in Teilen realisiert und kurz nach dem Tod des Architekten durch seinen Nachfolger Michelangelo Buonarroti wieder weitestgehend zerstört wurde, sondern vor allem in der auf eben diesen Nachfolger zurückgehenden — also sicherlich alles andere als unparteiischen — ästhetischen Beurteilung gründet.

Im Laufe der bisherigen Bearbeitungszeit wuchs das Thema allerdings schnell in unterschiedlichste Richtungen: So wurde schon bald klar, dass ein Verständnis der Zeichnungen nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit dem Modell selbst, sondern ebenso mit den bisher weit gehend unpublizierten zeitgenössischen Bauunterlagen aus dem Archivio storico der Reverendissima Fabbrica di San Pietro erfordern würde. Dabei erwiesen sich die Beschränkungen beim Zugang zu dem Modell in einem der sogenannten Ottagoni von St. Peter aufgrund der Baumaßnahmen in Vorbereitung des Jubeljahres 2000 sowie während desselben leider als ebenso hinderlich, wie die Funde in den Akten der Fabbrica als bedeutsam und hilfreich: Aufgrund der aus den Zeichnungen abzuleitenden Charakterisierung und zu vermutenden zeitlichen Einordnung des Zeichners gelang es möglicherweise, in einem Tagewerksverzeichnis der am Modellbau beteiligten Zimmerleute (falegnami) unter Leitung von Sangallos engem Mitarbeiter Antonio Labacco eine Person als den von Hermann Egger in seinem Katalog der Antikenzeichnungen in der Graphischen Sammlung Albertina, Wien [Egger 1903], so benannten Anonymus Destailleur, den Hauptzeichner des Codex Destailleur D, namhaft zu machen. Auch wenn dieser Name — „Guielmo francioso“ — bisher keine weiteren Schlüsse zu- oder Verbindungen, besonders zu namhafteren französischen Architekten der Zeit, erkennen lässt, so steht doch zu hoffen, dass die weitere Bearbeitung des Codex Destailleur D und der grossen Zahl an Zeichnungen aus seinem Umkreis hier zu genaueren Erkenntnissen führt.

Als ein weiteres bedeutsames vorläufiges Resultat kann die vorerst nur als Hypothese zu formulierende Erkenntnis angesehen werden, dass der gesamte Codex Destailleur D und besonders die vielen Zeichnungen mit Vermessungen antiker stadtrömischer Bauten kaum nur das Ergebnis der interessierten Arbeit eines Einzelnen bzw. einer kleinen Gruppe oder aber sogar nur eine Kompilation nach anderweitig bekannten Vorlagen sein können, sondern offensichtlich eine zielstrebige, umfangreiche Vermessungskampagne zur Voraussetzung haben, die Anfang der 1540er Jahre in Rom stattgefunden haben muss und daher eine Nähe zur Accademia della Virtù vermuten lässt: Denn nur von dieser sind die Absichten zu einer solchen Aktion überliefert. Sollte sich dieser Verdacht im Zuge der abschliessenden Katalogisierung der Zeichnungen bestätigen lassen, läge mit dem Codex Destailleur D und den zugehörigen Zeichnungen das Dokument für die erste, nach noch heute als modern anzusehenden Prinzipien durchgeführte und daher durchaus `archäologisch' zu nennende Forschung vor, die in der Lage zu sein scheint, das Bild vom `Studium der antiken Architektur in den Zeichnungen der Spätrenaissance' und damit die Frühgeschichte der klassischen Archäologie erheblich zu verändern. — Eine Fortsetzung der Arbeit an den Zeichnungen erscheint daher dringend wünschenswert. Dass diese nicht von einem Einzelnen geleistet werden kann, ist ebenso aufgrund der Menge der Zeichnungen wie der Komplexität des Themas der stadtrömischen Topographie und ihrer Geschichte absehbar.

Ein weiterer, anfangs aufgrund der Veröffentlichungen von Karl Frey — [Frey 1910], [Frey 1913] und [Frey 1916] — erheblich in seinem Umfang unterschätzter Bereich, der eigentlich ein eigenes Forschungsprojekt erforderte, stellt die Auswertung der Bauunterlagen im Archivio storico der Reverendissima Fabbrica di San Pietro dar: Die dort erhaltenen Informationen erlauben sowohl eine minutiöse Rekonstruktion des täglichen Baugeschehens spätestens seit dem Neubeginn der Arbeiten unter Papst Paul III. Farnese als auch eine Identifizierung vieler Materiallieferungen aus Rom und damit ex negativo detaillierte Erkenntnisse über die Ausplünderung antiker Bauten für die Errichtung der neuen Basilika. Als Ironie der (Bau-) Geschichte erscheint es dabei fast, dass derselbe Zeichner, der die Caracalla-Thermen noch kurz vor ihrer weitgehenden Zerstörung in den 1540er Jahren mit einer Genauigkeit vermass, die erst im 19. Jahrhundert wieder erreicht wurde, an eben dieser Zerstörung vermutlich tatkräftig als beteiligt war: Derselbe `Guielmo franciosio', der kurzzeitig im Frühjahr 1545 in den Listen der falegnami bei der Herstellung des Modells erscheint und aufgrund dessen mit dem Anonymus Destailleur identifiziert werden könnte, taucht danach bis Anfang 1547 in der Gruppe jener muratori der Fabbrica di San Pietro auf, die in den Caracalla-Thermen offensichtlich die Gewinnung von Baumaterial für St. Peter durch Abriss der antiken Bausubstanz betrieben!

War zu Beginn der Arbeit noch davon auszugehen, dass die Zeichnungen zu St. Peter das Projekt Sangallos in einem Stadium ungefähr zum Zeitpunkt der Fertigstellung des grossen Holzmodells zeigen, so stellte sich zunehmend heraus, dass sie in vielen Details untereinander Abweichungen aufweisen, welche nur als Veränderungen zwischen unterschiedlichen, wenn auch nahe beieinander liegenden Planungsstufen sinnvoll interpretiert werden können, wobei einerseits nicht ausgeschlossen werden muss, dass die Zeichnungen ungefähr zeitgleich, aber nach z.T. schon veralteten Vorlagen entstanden. — Dass es sich durchweg um Fehler und Irrtümer des Zeichners handelt, kann natürlich trotz allem nicht definitiv ausgeschlossen werden, ist aber als heuristischer Ansatz für die Interpretation und vor allem die Chronologie und Filiation von Architekturzeichnungen wie anderen Dokumenten wenig hilfreich und wurde hier daher nicht weiter berücksichtigt. — Andererseits kann anhand einiger Details aber auch eine Mitarbeit des Zeichners am Planungsverfahren selbst in hohem Maße wahrscheinlich gemacht werden: Sollte diese — allerdings nur auf Indizien basierende — Hypothese hinreichend bewiesen worden sein, so wirft sie ein neues Licht auf die Arbeitsteilung innerhalb des sicherlich grössten und vielleicht auch bedeutendsten `Architektur-Grossbüros' schon in der Renaissance.

Insgesamt ist die Arbeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt also nur als eine Zwischenstufe zu sehen, von der zukünftige Arbeiten in verschiedene Richtungen auszugehen haben. Vor allem ein detaillierter Vergleich aller Quellen zum letzten St.-Peter-Projekt Sangallos, also 

  • der Zeichnungen in den Florentiner Uffizien
  • der Zeichnungen in Berlin, Stockholm, London und Madrid 
  • der Akten des Archivio storico der Reverendissima Fabbrica di San Pietro
  • des Modelles selbst
  • der Salamanca-Stiche
  • der Unterlagen der Modellrestaurierung(en)
  • sowie bauhistorischer Untersuchungen an St. Peter selbst 

könnte zwar ein nahezu erschöpfendes Wissen über dieses Projekt und damit das Bau- und Planungsgeschehen an St. Peter erbringen, ist aber von einem Einzelnen kaum zu leisten und hinsichtlich des Verhältnisses von Aufwand und Ergebnis angesichts der Nichtrealisierung des Projekts zumindest fragwürdig. Dabei ist aber ausserdem mit der Auffindung weiterer, bisher nicht identifizierter Blätter zu rechnen.

Andererseits erscheint es verlockend, ein Projekt derart detailliert zu untersuchen, das zweifellos nicht nur das grösste der Renaissance ist, welches ein solch ausgereiftes Planungsstadium und sogar seine teilweise Realisierung erreichte, sondern zugleich aufgrund der Fülle an sich gegenseitig ergänzenden Quellen das vermutlich mit Abstand am besten dokumentierte Bauprojekt der Renaissance und vielleicht sogar noch der folgenden zwei bis drei Jahrhunderte überhaupt darstellt. Somit kann seine Erforschung über den Wissensgewinn zum aktuellen Bauwerk selbst Wichtiges zu einer Architekturgeschichtsschreibung beitragen, die auch verstanden wird als eine Geschichte der Methoden und Techniken der Architektur, ihrer Planung, Ausführung und Rezeption.

Navigation