12. Nähe zur Accademia della Virtù
These
Der Codex Destailleur D lässt sich möglicherweise mit dem von Claudio Tolomei überlieferten Projekt der Accademia della Virtù, auch gelegentlich nach ihrem Interessenschwerpunkt als Accademia Vitruviana bezeichnet, identifizieren.
Begründung
Es wäre kaum vorstellbar, dass eine umfangreichere Vermessungaktion antiker Bauten sowie die Aufnahme wichtiger zeitgenössischer Projekte, die zudem überwiegend vom führenden römischen Architekten der Zeit stammten, durch einen Franzosen und seine Mitarbeiter in der Mitte der 1540er Jahre in Rom stattgefunden haben könnte, ohne dass die Accademia della Virtù davon Kenntnis erlangt und vielleicht sogar darauf Einfluss genommen haben könnte, zumal der Ausführende zum Sangallo-Umkreis zeitweilig enge Kontakte gehabt haben muss. Eher erscheint es denkbar, dass Personen aus dem Umkreis z.B. des Guillaume Philandrier mit der Durchführung der Vermessungen für das ehrgezeige Projekt der Accademia beauftragt und gleichzeitig über eine Tätigkeit bei St. Peter deren Lebensunterhalt überwiegend finanziert wurden, da die Accademia über keine (umfangreichen) eigenen finanziellen Mittel verfügt haben dürfte. Daneben könnten — wie schon oben erwähnt — gerade die laufenden Arbeiten an den Grossbauten die Möglichkeit geboten haben, vorhandene Gerüste mit zu benutzen anstatt diese selbst unter vergleichbar hohem Kostenaufwand zu errichten.
Diese These ist mit einer Reihe von Problemen oder Widersprüchen verbunden, die hier nicht verschwiegen werden können:
- Tolomei erwähnt in seinem Brief, dass für die damals noch geplante, also noch nicht erfolgte Vermessung der antiken Bauten das antike römische Fussmass verwendet werden solle: In den Zeichnungen wird jedoch — zumindest überwiegend — das französische Fussmass verwendet. Zur Diskussion dieses Einwandes vgl. den Abschnitt zu den Massgrundlagen.
- Vasari berichtet, dass mit den Vermessungen der antiken Bauten für die Accademia della Virtù der junge Jacomo Barozzi da Vignola beauftragt war [Vasari 1984, Bd. V (Testo); S. 570], von dem sich anscheinend weder entsprechende Zeichnungen noch Spuren in den Zeichnungen des Codex Destailleur D oder den seiner Umgebung zuzuordnenden Blättern erhalten haben.
- Weder Tolomei [Tolomei 1547.1] bzw. [Tolomei 1547.2] noch Philandrier [Philandrier 1544] und [Philandrier 1550] geben in ihren Veröffentlichungen einen Hinweis darauf, dass die Zeichnungen schon ausgeführt seien oder ihre Anfertigung kurz bevor stünde.
- Auch Sangallo selbst gibt in dem erhaltenen Entwurf zum Vorwort [Sangallo (Vitruv)] einer Vitruv-Ausgabe, bei der es sich vielleicht um die von der Accademia vorbereitete handeln könnte, keinen Hinweis auf eine erfolgte oder vorbereitete Vermessung der antiken Bauten im Zuge einer durch die Accademia eventuell vorbereitete Kampagne.
Eine abschliessende Klärung dieser Fragen konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit [= die 2001 eingereichte Dissertation Bernd Kulawiks] nicht erreicht werden; diese wird — unabhängig vom Ergebnis, also der Bestätigung oder Widerlegung dieser These —notwendiger Teil eines vollständigen Katalogs der Zeichnungen des Codex Destailleur D und seines Umkreises zu sein haben. Dabei dürfte die Wahrscheinlichkeit für eine Bestätigung der These hinreichend sein, um sie als Arbeitshypothese für die Untersuchung der Entstehungshintergründe dieser Zeichnungsgruppe ansetzen zu können.