0. Vorbemerkung zur Methodik
Die hier im Folgenden angenommene grösstmögliche Fallibilität der Thesen bzw. ihre skeptische Infragestellung mag z.T. übertrieben erscheinen, soll aber der wissenschaftlichen Redlichkeit halber nicht zugunsten affirmativer Behauptungen als unrealistisch oder vollkommen abwegig 'unterschlagen' werden: Hinter solchen Formulierungen verbergen sich leider nicht zu selten Ungenauigkeiten oder ungesicherte Annahmen. Angesichts der während der Arbeit immer wieder beobachteten Oberflächlichkeit in Datierung und Zuschreibung von Zeichnungen sowie in der den Auftraggebern oder Künstlern aufgrund selbst wiederum fraglicher Zeichnungsanalysen unterstellten Intentionen, erscheint es wichtig darauf hinzuweisen, dass alle im Rahmen der Arbeit gemachten Beobachtungen mehrdeutig bzw. in verschiedenen und leider nicht selten gegensätzlichen Richtungen interpretierbar sind, die hier vorgeschlagenen Interpretationen also immer nur eine — zudem gerade nicht (wie es umgangssprachlich häufig irreführender Weise heisst) "gewisse", sondern zumeist sogar ungewisse — Wahrscheinlichkeit, jedoch wohl in keinem Fall vollständige Gewissheit für sich beanspruchen können. Jedoch gibt es hier m.E. einen Unterschied zur mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie: Diese definiert das Zusammentreffen mehrerer Ereignisse als das Produkt der Wahrscheinlichkeiten für das Eintreffen jedes einzelnen Ereignisses, die selbst jeweils Zahlen vom Maximalwert "1" (für vollständige Gewissheit) sind. Es wäre demzufolge die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit einer Hypothese oder Schlussfolgerung z.B. über Enstehungsort, Entstehungzeit, Autor und Verwendungszweck einer Architekturzeichnung ein Produkt aus Werten, die selbst jeweils kleiner als Eins sind: Die Wahrscheinlichkeit der zusammenfassenden Hypothese läge also auf jeden Fall unter derjenigen der Wahrscheinlichkeit jeder Einzelvermutung. Hier wird hier jedoch davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit einzelner Interpretationen steigt, wenn diese mit bestimmten anderen eine konsistentere Verbindung ergeben als mit deren Gegensätzen. Insofern stellen die hier vorgeschlagenen Analysen und ihre Interpretationen ein nur durch sich selbst bzw. ihre eigene Wahrscheinlichkeit und nur wenige, in der Realität (der Zeichnungen) zu findende Indizien gestütztes Netz von Hypothesen dar, das zwar bei Wegfall einiger 'Knoten' noch tragfähig sein mag, insgesamt aber jederzeit fallibel bleibt.
Im Folgenden werden die Kernthesen bzw. -hypothesen der gesamten Arbeit sowohl bezüglich des Codex Destailleur D und seines Hauptzeichners, des so genannten Anonymus Destailleur als auch bezüglich der St.-Peter-Zeichnungen und ihrer Beziehungen zu Sangallos Projekt und zur tatsächlichen Bauausführung kurz formuliert und begründet, da auf sie im Verlaufe der Arbeit immer wieder Bezug genommen werden soll.
Da die Thesen aufeinander aufbauen, wäre es zwar konsequent, bei einem bestimmten Indiz jeweils alle durch es bestätigten oder unterstützten Thesen zu vermerken, darauf wurde jedoch aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet: Es findet sich also jeweils nur das Stichwort der 'höchstwertigen' These angegeben, wodurch gleichzeitig signalisiert wird, dass alle in dieser bereits vorausgesetzten, für sich jedoch schwächeren Thesen ebenfalls gestützt werden.